Volkskrankheit Rheuma - doch nicht nur die ältere Generation ist betroffen
Rheuma ist längst zur Volkskrankheit geworden.
Doch entgegen dem Vorurteil, nur Erwachsene und ältere Menschen seien betroffen, leiden auch Kinder unter den verschiedenen Ausprägungen von Kinder- und Jugendlichen-Rheuma. Insgesamt haben bundesweit 40.000 Kinder mit rheumatischen Erkrankungen zu kämpfen. Oberärztin Dr. Kirsten Mönkemöller und ihr Team kümmern sich im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße um betroffene Kinder. Besonders häufig treten bei ihnen chronische Gelenkentzündungen auf. Im Fachjargon spricht man von der Juvenilen Idiopathischen Arthritis (JIA).
Ist Rheuma nicht eigentlich eine Erkrankung, von der überwiegend ältere Menschen betroffen sind?
Interessanterweise ist das genau das Bild, das die meisten Patientinnen und Patienten vor Augen haben, sobald die Diagnose gestellt ist: Sie denken sofort an die alte Dame im Rollstuhl. Diese Assoziation trifft aber nur bedingt zu, denn die juvenile idiopathische Arthritis bezeichnet ein breites Spektrum an Krankheiten und bedeutet letztendlich nur, dass die Erkrankung vor Vollendung des 16. Lebensjahres beginnt. Bei der JIA liegt eine Entzündung in einem oder sogar mehreren Gelenken über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen vor - ohne, dass man eine andere Erklärung findet. Ein wesentlicher Unterschied zum Erwachsenenrheuma ist, dass Kinder deutlich bessere Heilungschancen haben, als Menschen, die im hohen Alter erkranken. Voraussetzung ist, dass das Kinderrheuma rechtzeitig erkannt und adäquat behandelt wird. Bei knapp der Hälfte der Patientinnen und Patienten heilt das Kinderrheuma bis zum Erwachsenenalter; es „wächst sich aus“.
Wie wird Rheuma im Kindesalter ausgelöst?
Die Juvenile Idiopathische Arthritis als chronische Gelenkentzündung wird durch eine Fehlreaktion des Immunsystems hervorgerufen. Genetische Disposition, Stress, Virusinfektionen und Umweltfaktoren – all diese Gegebenheiten können im Zusammenspiel eine Überreaktion des Immunsystems herbeiführen. Allerdings sollte man von keinem linearen System sprechen. Einfache „Wenn-dann-Gleichungen“ helfen nicht bei der Frage weiter, warum ein Kind an Rheuma erkrankt oder nicht. Also zum Beispiel: Wenn ich mein Kind stille, dann bekommt es kein Rheuma. Solche Aussagen stimmen nicht, denn es handelt sich immer um ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren. Rheuma lässt dich aus meiner Sicht am ehesten als schicksalshafte Autoimmunerkrankung beschreiben, die wir immer besser verstehen; aber wir wissen noch nicht, ob und wie man die JIA verhindern kann.
Bei vielen Autoimmunerkrankungen spricht man davon, dass das Immunsystem zu stark ist. Trifft das auch bei Rheuma zu?
Lassen Sie mich dies anhand eines Beispiels verdeutlichen: Bei einer bakteriellen Arthritis im Knie kommt es zu Eiterbildung. Für den Körper ist das gefährlich und er reagiert daher mit einer Entzündung; das Immunsystem macht sozusagen „Feuer im Knie“, um den Bakterien den Kampf anzusagen. Diese Reaktion des Körpers ist gesund. Bei Kinderrheuma allerdings bekämpft das Immunsystem eigene Körperzellen mit einer Entzündung, weil es sie nicht mehr erkennt. Das Gefährliche ist, dass diese Entzündung nicht aufhört. Der Körper kann die Überreaktion nicht mehr regulieren. Ziel der medikamentösen Therapie ist es daher, die Entzündung zu unterdrücken und die Überreaktion des Immunsystems wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Medikamente übernehmen zum Teil hierbei die regulierende Rolle der Stop-Funktion, die das Immunsystem nicht mehr übernimmt.
Wie erkennen Eltern Anzeichen von Rheuma bei ihrem Kind?
Typisch ist die sowohl bei Erwachsenen, als auch bei Kindern auftretende Morgensteifigkeit, bei der sich Betroffene für bis zu zwei Stunden nach dem Aufstehen nicht gut bewegen können und über Schmerzen klagen; kleine Kinder äußern häufig keine Beschwerden, da sie eine andere Schmerzverarbeitung haben. Wichtig ist, das Kind zu beobachten, da die Morgensteifigkeit nach dem „Einlaufen“ wieder verschwindet und in der Schule häufig gar nicht mehr zutage tritt. Auffällig ist auch, wenn Kinder ihr Bewegungsmuster ändern. Möchte das Kind vermehrt getragen werden, obwohl es laufen kann? Meidet es neuerdings Treppenstufen oder zieht es sich zurück, weil es nicht mehr mit den Geschwisterkindern toben möchte? Das können verdächtige Beobachtungen sein. Manchmal treten Entzündungen im Gelenk aber auch auf, ohne dass eine chronische rheumatische Erkrankung dahintersteckt. Viele Eltern kennen beispielsweise den sogenannten Hüftschnupfen, ein plötzlich auftretendes Humpeln, das nach einem Infekt auftritt und in der Regel nach zwei Wochen unter Medikamentengabe wieder verschwindet.
Diagnose: Kinderrheuma. Wie bringen Eltern ihrem Kind den Befund bei?
Eltern und ihren Kindern die Krankheit näherzubringen und sie zu erklären, ist unsere Aufgabe als Kinderrheumatologen. Ich finde besonders wichtig, dass Kinder und Eltern in einem ersten Schritt erst einmal verstehen, was mit ihnen passiert. Im Rahmen der Aufklärung tun wir das sehr genau. Was man konkret gegen die Krankheit tun kann, ist dann der zweite Teil: gemeinsam zu überlegen, wie es besser wird und entsprechende Schritte einzuleiten.
Wie läuft die Therapie ab?
Die medikamentöse Therapie von JIA läuft auf ein Ziel hinaus: die Entzündung so schnell wie möglich zu unterdrücken. Idealerweise kommt es dann zur sogenannten Remission; die Entzündung im Körper ist nicht mehr aktiv und das Rheuma „schläft“. In der weiteren Therapie kommt es dann darauf an, die Remission zu erhalten und sogenannte Schübe zu verhindern. Ist es nicht möglich, die Remission aufrechtzuerhalten, gibt man Basismedikamente hinzu, die die Kinder bis zu zwei Jahre nehmen – je nach Krankheitsaktivität können auch sogenannte Biologika verabreicht werden. Am Wichtigsten bei der Behandlung der entzündeten Gelenke ist jedoch die ganzheitliche Therapie, die auch Physio- und Ergotherapie sowie Krankengymnastik mit einbezieht. Muskeln und Sehnen sollen im Training bleiben und Bewegungsabläufe nach Möglichkeit erhalten bleiben. Hier ist Eigeninitiative von Kindern und Eltern gefragt, denn die Übungen müssen auch zu Hause gemacht werden: zweimal die Woche Physiotherapie reicht nicht aus. Nach einem Jahr erfolgreicher Remission werden die Medikamente langsam ausgeschlichen. Es braucht zudem nicht selten eine sehr gute Begleitung durch Psychologen und Pädagogen, denn die Lebensrealität von Betroffenen und Angehörigen ändert sich mit einem Schlag. Akzeptanz durch Freunde, den Sportverein und die Schule ist ungemein wichtig – und nicht zuletzt auch das Verständnis für den eigenen Körper.
Manche Medikamente sind bestimmt nicht ohne Nebenwirkungen…
Dieser Gedanke bereitet Kinder und Eltern in der Tat gleichermaßen große Sorgen. Umso wichtiger ist es daher, mögliche Nebenwirkungen bereits im Vorfeld der Behandlung eingehend zu besprechen. Manche Medikamente führen beispielsweise nach längerer Einnahme zu Übelkeit; doch keine Sorge, denn es gibt Tricks, wie man diese Nebenwirkung aushebeln kann. Dieses Wissen ist eine emotionale Stütze – sowohl für Patient*innen, als auch für deren Angehörige. Der größte Teil der Kinder hat allerdings wenig bis keine Nebenwirkungen.
Welches Verhalten hilft erkrankten Kindern im Alltag?
Die Lebensumwelt ist elementar: Ein stabiles Netzwerk aus Familie, Freunden und Schule, das die Kinder trägt, bewirkt Wunder. Wenn das Umfeld Verständnis für die Krankheit aufbringt und versteht, dass es gute und herausfordernde Phasen gibt, hilft das Betroffenen ungemein. Mein zweiter Tipp: in Bewegung bleiben! Erkrankte Kinder sollten unbedingt weiterhin aktiv sein, in die Schule gehen und regelmäßig Sport treiben. Nicht zuletzt müssen schwerer an Rheuma erkrankte Kinder lernen, mit Schmerzen umzugehen – das ist nicht einfach und braucht Zeit. Die Betreuung durch ein interdisziplinäres Team kann Betroffenen helfen, mit der Zeit eine innere Stärke zu entwickeln. Für jeden unserer kleinen Patient*innen entwickeln wir gemeinsam und im interdisziplinären Austausch ein persönliches Behandlungskonzept, das wir kontinuierlich anpassen und optimieren. Das Motto lautet hierbei: miteinander arbeiten – und nicht jeder für sich.
Welche Arten von Kinderrheuma werden im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße behandelt?
Wir behandeln ein breites Spektrum der Kinderrheumatologie: Von Gelenkentzündungen (Arthritis) über Kollagenosen, also Entzündungen im Bindegewebe bis hin zu Gefäßentzündungen, den Vaskulititiden. Wir behandeln außerdem viele Kinder mit nicht-bakteriellen Entzündungen im Knochen (NBO/CRMO) und Patientinnen und Patienten mit auto-inflammatorischen Syndromen, beispielweise dem Mittelmeerfieber, bei denen das Immunsystem überreagiert und bei dem nicht nur an einem Ort, wie einem Gelenk, sondern im ganzen Körper Entzündung herrscht. Außerdem behandeln wir auch Kinder und Jugendliche, die unter chronischen Schmerzen leiden.
Ist Rheuma heilbar?
In NRW gibt es pro Jahr rund 300 Neuerkrankungen an Juveniler Idiopathischer Arthritis (JIA); insgesamt sind 3.000 Kinder betroffen. Die Heilungschancen bei einer rheumatischen Erkrankung im Kindesalter sind gut. Circa 30 bis 40 Prozent aller Kinder mit einer JIA haben im Erwachsenenalter keinerlei Beschwerden mehr; ein weiterer Teil muss Medikamente nehmen, ist aber in Bewegungsabläufen und Alltagsaktivitäten nicht eingeschränkt. Das letzte Drittel der Patient*innen ist ein Leben lang auf Medikamente angewiesen und hat mit Schüben und Beeinträchtigungen zu kämpfen. Die Tendenz der Heilung ist allerdings weiterhin steigend, da die Behandlungen immer individueller und somit optimaler auf die Bedürfnisse des Erkrankten abgestimmt sind.
Sollten Eltern ihre Kinder in Zeiten von Covid-19 überhaupt in die Schule schicken?
Generell: ja. Es gibt allerdings zwei Risikofaktoren für Covid-19. Zum einen, wenn die rheumatische Erkrankung hochaktiv ist. Zum anderen sollte auf den Gang in die Schule verzichtet werden, wenn die Kinder hochdosiert Kortison nehmen müssen. Alle anderen Kinder mit rheumatischen Erkrankungen sollten auch in Zeiten von Corona unter Berücksichtigung von Hygiene- und Abstandsregeln unbedingt in die Schule gehen, denn die Einbindung in den Alltag ist ein wichtiges Puzzlestück auf dem Weg der Besserung. Eine Grippeimpfung ist übrigens für alle Kinder von enormem Vorteil.
Was geben sie Eltern und Geschwistern mit auf den Weg, deren Familienmitglied an Kinderrheuma erkrankt ist?
Die einzige Botschaft, die zählt, ist: Wir werden das zusammen schaffen. Als Kinderrheumateam orientieren wir uns an den Bedürfnissen des erkrankten Kindes, die auch Auswirkungen auf das gesamte Familienleben haben. Manchmal kann es ein langer Weg hin zur adäquaten Therapieform sein; Zuversicht ist daher sehr wichtig. Auch der Austausch mit anderen Menschen kann helfen. Betroffene können sich beispielsweise an die Deutsche Rheumaliga wenden.
Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Mönkemöller.